Nur noch zwei Tage, dann startet die 72. Vierschanzentournee. Sportlich gesehen definitiv ein großes Highlight der Saison 2023/24. Aber auch medial wird die Tournee wieder einmal von großem Interesse sein. Besonders durch den derzeitigen Aufschwung im deutschen Team ist damit zu rechnen, dass Millionen von Augen auf die Tournee gerichtet sein werden. Der Topfavorit in diesem Jahr kommt allerdings nicht aus Deutschland.
Das ewige Warten auf den ersten Tourneesieg seit Sven Hannawald
Die Sehnsucht nach einem deutschen Skispringer, der die Tournee gewinnt ist groß. Mittlerweile müssen die deutschen Fans seit über zwanzig Jahren darauf warten, dass wieder mal ein deutscher Skispringer den goldenen Adler in die Höhe reckt. 2002 war es Sven Hannawald, der als erster Springer überhaupt alle vier Wettbewerbe bei der Tournee gewinnen konnte. Seitdem musste sich das DSV-Team immer wieder mit zweiten und dritten Plätzen begnügen. Zudem gab es einige sehr frustrierende Tourneen, bei denen die Deutschen die vorderen Plätze weit verfehlten. Erstaunlicherweise reichte es also über 20 Jahre nie zum Gesamtsieg und das, obwohl häufig deutsche Springer zu den Favoriten zählten.
Von allgemeiner Erfolglosigkeit kann im deutschen Team wohl kaum die Rede sein, denn seit 2002 sammelte Deutschland zahlreiche Titel. Ganz gleich, ob Gesamtweltcup (Severin Freund 2015), WM (Markus Eisenbichler 2019) oder Olympia (Andreas Wellinger 2018), oftmals war Deutschland ganz vorne zu finden. Doch über der Tournee liegt offenbar ein Fluch. Jahr für Jahr gab es nach großen Hoffnungen immer wieder enttäuschte Gesichter. War es etwa der hohe Erwartungsdruck, an dem die deutschen Springer scheiterten, oder war jedes Jahr aufs Neue mindestens ein Athlet aus einer anderen Nation besser? Wahrscheinlich hatten in der Vergangenheit mehrere Faktoren Einfluss auf die deutsche Misere. Natürlich gab es den einen oder anderen deutschen Springer, der nach gutem Saisonstart plötzlich der Form hinterher sprang. Aber es gab auch Jahre, in denen etwa Kamil Stoch und Ryoyu Kobayashi, wie einst Sven Hannawald den Vierfach-Triumph zelebrierten und es so kaum möglich war, die Tournee zu gewinnen.
Aufschwung im deutschen Team lässt hoffen
Doch was bringt es, ewig mit der Vergangenheit zu hadern, wenn es in der Gegenwart mal wieder recht vielversprechend aussieht? Denn eigentlich sollten die Deutschen mit breiter Brust zur Tournee reisen. Nach einer enttäuschenden Vorsaison konnte der DSV in der ersten Phase der Saison bereits mehrere starke Leistungen verbuchen. Mit Andreas Wellinger, Karl Geiger und Pius Paschke befinden sich derzeit drei deutsche Springer in absoluter Topform. Geiger konnte bereits zwei Weltcups gewinnen und auch Pius Paschke durfte sich in Engelberg über seinen allerersten Sieg im Weltcup freuen. Zudem war Andreas Wellinger in nahezu allen Wettkämpfen in den Top Ten. Außerdem stand bislang in jedem Wettbewerb mindestens ein Deutscher auf dem Podium. Die Ergebnisse stimmen also und so könnten die Vorzeichen für die Tournee kaum besser stehen. Hinzu kommt, dass Karl Geiger und Andreas Wellinger bereits die Erfahrung gemacht haben, große Titel zu gewinnen. Für Pius Paschke hingegen ist es eine völlig neue Realität plötzlich als Mitfavorit auf den Tourneesieg genannt zu werden. Letztes Jahr noch aussortiert und im Formtief und jetzt ganz oben, sowas hat es bisher selten gegeben. Doch Paschke strahlt derzeit eine enorme Überzeugung aus, sodass er die Aufmerksamkeit und Erwartungen wohl kaum an sich heranlassen wird.
Stefan Kraft in der Poleposition auf den Tourneesieg
Das sind doch Aussichten, die kaum besser sein könnten. Wäre da nicht Stefan Kraft. Denn trotz der starken DSV-Leistungen, ist Stefan Kraft aus Österreich der absolute Topfavorit auf den goldenen Adler. Mit fünf Siegen in acht Springen und zwei weiteren Podestplatzierungen, hat der Tourneesieger von 2015 die Messlatte extrem hochgelegt. Kraft befindet sich derzeit in einer Traumform, die besser kaum sein könnte. Deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Durststrecke des ÖSV vor der des DSV enden wird. Ja, auch die Österreicher konnten seit 2015 keinen Sieg mehr bei der Tournee feiern. Beachtet man, dass von 2009 bis 2015 immer ein Österreicher siegreich war, sind acht Jahre ohne Tourneesieg eine sehr lange Zeit. Die Erwartungen in Österreich werden also mindestens genauso hoch sein, wie die in Deutschland.
Nicht nur Kraft und die Deutschen werden ein Wörtchen um den Tourneesieg mitreden
Bahnt sich also ein Zweikampf zwischen Deutschland und Österreich um den goldenen Adler an? Nicht ganz unwahrscheinlich, da die Österreicher neben Stefan Kraft unter anderem mit Jan Hörl noch einen weiteren Springer haben, der in dieser Saison bereits mehrfach mit Podestplatzierungen überzeugen konnte. Aber es wäre ein Fehler, die anderen Topnationen komplett abzuschreiben. Gerade beim Japaner Ryoyu Kobayashi hat man das Gefühl, dass auch er derzeit in einer guten Verfassung ist. Allerdings hatte er oft in den Wettkämpfen das Glück nicht auf seiner Seite. Ebenso sollte man Anze Lanisek nicht außer Acht lassen, denn nach leichten Startschwierigkeiten, springt der Slowene nun immer häufiger auf einem Level mit den bisherigen Stars der Saison. Zu guter Letzt wären dann noch die Norweger zu nennen, die sich spätestens seit Klingenthal im Aufwärtstrend befinden. Vor allem Marius Lindvik und der Vorjahressieger Halvor Egner Granerud verfügen über enorm viel Potential, sodass sie mit ein wenig Glück schnell zu Stefan Kraft und den Deutschen aufschließen können. Die Topnation, die in diesem Jahr wohl eher keine Chancen auf den goldenen Adler hat, sind die Polen. Nach wie vor sind Kubacki, Zyla und Stoch weit von der Weltspitze entfernt. Bei der Tournee geht es wohl eher nur darum, in einzelnen Wettkämpfen gute Ergebnisse zu sammeln. Ein Pole auf den vorderen Plätzen ist derzeit sehr unrealistisch.