Kurz vor Winter-Start sind die letzten Trainingseinheiten absolviert: In den vergangenen zwei Wochen war der deutsche A-Kader auf der Olympiaschanze in Garmisch-Partenkirchen zu Gast, um weitere Sprünge auf Eis zu sammeln und sich den letzten Feinschliff nur wenige Tage vor der Reise nach Russland abzuholen. Im vergangenen Winter waren sowohl Markus Eisenbichler als auch Karl Geiger Garanten für Top-Platzierungen sowie Medaillen – doch ein Titel fehlt im deutschen Team seit 20 Jahren. Mit Andreas Wellinger, der nach einem enttäuschenden Winter wieder in die Weltcup-Mannschaft zurückkehrt, stellt das deutsche Team den Titelverteidiger von der Normalschanze bei den Olympischen Spielen.
Im vergangenen Winter erlebte er seinen wohl ereignisreichsten Winter überhaupt: Skiflug-Weltmeister in Planica, von Planica direkt nach Hause zur Geburt seiner Tochter, ein positiver Corona-Test kurz vor der Vierschanzentournee, den Auftaktsieg in Oberstdorf, ein vorübergehendes Formtief bis hin zu vier Medaillen bei der heimischen Ski-WM und den Sieg in der Skiflug-Gesamtwertung. Doch auch beim Blick auf die letzten Wochen und Monate dürfte schnell klar werden, dass sich Karl Geiger während des Sommers eine gute Ausgangsposition erarbeitet hat. „Im Sommer war es vielleicht nicht immer ganz einfach, aber ich habe eigentlich immer gut trainiert. Ich bin schon sehr zufrieden, wie es sich jetzt entwickelt hat“, so Geiger nach den Deutschen Meisterschaften Ende Oktober. Mit dem Meistertitel in Oberhof hat sich der 28-Jährige noch einmal die Bestätigung abgeholt, dass er zum Start in den Winter auf dem richtigen Weg ist.
Bei der Zielsetzung für kommenden Winter versucht sich der Oberstdorfer nicht auf ein konkretes Highlight zu fokussieren: „Ich habe mir für den Winter gute Sprünge vorgenommen, möglichst konstant und wirklich jedes Wochenende mein Bestes zu geben.“ Dass Karl Geiger ein Garant für Top-Platzierungen bei Großereignissen ist, hat er im vergangenen Winter mehrfach unter Beweis gestellt. Ein Titel fehlt, nachdem er in der vergangenen Saison bereits zum Greifen nah war, aber nach wie vor: Der Goldene Adler der Vierschanzentournee. Ein „heimliches“ Ziel zum diesjährigen 70. Jubiläum, wie von den deutschen Athleten und Trainern herauszuhören ist.
Leyhe überrascht nach Kreuzbandriss
Mit einer positiven Entwicklung überzeugte im Sommer besonders Stephan Leyhe. Erst im Frühjahr diesen Jahres war er nach rund einem Jahr Verletzungspause (Kreuzbandriss in Trondheim; März 2020) wieder ins Sprunggeschehen eingestiegen. Bereits bei den Sommer-Grand-Prix-Wettbewerben überraschte er mit guten und konstanten Platzierungen in den Punkterängen. Zuletzt sicherte er sich sogar einen starken zweiten Platz hinter Karl Geiger bei den Deutschen Meisterschaften. Das Hauptziel für den kommenden Winter definierte der gebürtige Hesse während einem der letzten Lehrgänge lachend als: „Unfallfrei durchkommen“. Zudem wolle er einfach wieder das Skispringen genießen, Anschluss ans Team finden und ein Stück weit versuchen, an den „alten“, konstanten Stephan Leyhe anzuknüpfen.
Andreas Wellinger als Titelverteidiger in den Olympia-Winter
Voran ging es in diesem Sommer auch bei Andreas Wellinger. Nachdem er im letzten Winter mit erheblichen Problemen zu kämpfen hatte und die Saison Anfang des Jahres sogar vorzeitig beenden musste, lief es in den vergangenen Wochen und Monaten deutlich besser für den Olympiasieger von Pyeongchang 2018. „Die Sommersaison ist gut gelaufen und ich habe langsam wieder Gefühl aufgebaut. Ich freue mich auf die Wettkämpfe, die kommen“, so Wellinger zum Medientag in Garmisch-Partenkirchen. „Die Saison ist extrem lang. Mit der Tournee, Olympia und der Skiflug-WM haben wir drei Großereignisse. Die Challenge ist, dass man über einen langen Zeitraum auf einem guten Niveau Ski springt. Das erste Ziel ist für mich erst einmal gut reinzustarten und wieder Weltcuppunkte zu sammeln“, fährt der 26-Jährige fort. An Motivation fehlt es ihm in keinem Fall und auch so scheint Wellinger befreiter und bereit, wieder voll durchzustarten. Als Titelverteidiger bei den Olympischen Spielen sichert er dem DSV-Team einen weiteren fünften Startplatz von der Normalschanze in Peking, den er natürlich hofft, selbst einnehmen zu können.
Nach Sturz in Klingenthal: Markus Eisenbichler mit Fragezeichen
Für einen kurzen Schreckmoment beim Sommer-Grand-Prix-Finale in Klingenthal Anfang Oktober sorgte der Zweitplatzierte des Gesamtweltcups der vergangenen Saison: Bereits über dem Vorbau hatte Markus Eisenbichler Schwierigkeiten und kam, glücklicherweise ohne größere Blessuren, zu Fall. Seitdem lief es für den Siegsdorfer jedoch erst einmal nicht rund. Auch bei den Deutschen Meisterschaften rund 3 Wochen später wurde er nur Sechster und verpasste die Medaillenränge.
Kurz vor dem Winter sehen die Sprünge allerdings wieder besser aus: Bei den letzten Vorbereitungen von der Olympiaschanze in Garmisch-Partenkirchen war zumindest wieder ein stabileres System mit konstanten Sprüngen zu erkennen. Den Winter will der 30-Jährige aber dennoch ganz entspannt angehen und von Wettkampf zu Wettkampf schauen. Auf den Weltcup-Auftakt im russischen Nizhny Tagil freut er sich bereits: „Die Schanze ist immer super präpariert. Es ist winterlich und saukalt. Ich freue mich eigentlich, dass es jetzt mal wieder wo anfängt, wo es auch wirklich schneesicher und stabil ist.“ Für welche Platzierungen das aktuelle Level von Markus Eisenbichler ausreicht, lässt sich allerdings schwer abschätzen. Er bleibt vorerst ein kleines Fragezeichen und wird uns sicherlich früher oder später auf irgendeine Art überraschen – ganz á la „Eisei“.
Constantin Schmid mit konstantem Sommer – Martin Hamann rutscht ab
Zwei unterschiedliche Entwicklungen waren bei den beiden jüngsten Athleten im Nationalkader zu beobachten. Während Schmid starke Leistungen im Sommer-Grand-Prix lieferte, fiel Hamann immer weiter zurück. Beim COC- sowie SGP-Finale in Klingenthal konnte der Sachse nicht die erhofften Leistungen erbringen. Auch bei den Meisterschaften landete er auf einem enttäuschenden 21. Platz. Bei den letzten Lehrgängen des Nationalkaders war Martin Hamann daher nicht mehr am Start. Er trainiert kurz vor Saisonstart mit der B-Mannschaft und ist somit vorerst kein Teil des deutschen Weltcup-Aufgebots.
Constantin Schmid hingegen überzeugte bereits im Sommer-Grand-Prix mit guten Ergebnissen. Auch bei den Deutschen Meisterschaften lief es nach Plan für den Oberaudorfer: Platz drei im Einzelwettbewerb hinter Geiger und Leyhe. „Meine Ziele in der kommenden Saison sind einfach weiterzuarbeiten und besser zu sein als letzte Saison. Und natürlich das große Ziel: Olympia, da möchte ich schon dabei sein“, so der 21-Jährige. Und wenn sich seine Trainingsleistungen aus dem Sommer auch im Winter so bestätigen, ist dies ein durchaus realistisches Ziel. Das Potenzial ist da und wie er bereits im Sommer gezeigt hat, ist auch ein Constantin Schmid für die ein oder andere Überraschung gut.
Severin Freund bis zuletzt auf der Kippe
Für Severin Freund stand ein Startplatz zum Weltcup-Auftakt noch bis zum letzten Lehrgang zur Debatte. Die Trainer rund um Bundestrainer Stefan Horngacher mussten sich in den vergangenen Tagen noch von einem Athleten „verabschieden“. Um den sechsten Platz im DSV-Team kämpfte Severin Freund in den zurückliegenden Wochen mit Stephan Leyhe, der die Nase in der zweiten Sommerhälfte allerdings vorne hatte und letztendlich das Duell für sich entschied.
„Bis zum Sommer-Grand-Prix lief es in der Vorbereitung wirklich ziemlich gut. Jetzt mit den ersten Eissprüngen habe ich noch nicht ganz anknüpfen können. Aber in so einer langen Vorbereitung gibt es immer mal Phasen, da ist es normal, dass es Wellen gibt. Und deswegen vertraue ich darauf, dass die Form dann zum richtigen Zeitpunkt wieder zurückkommt“, erläutert Freund. Wann er die nächste Chance für einen Weltcup-Einsatz erhalten wird, bleibt abzuwarten. Abhängig dürfte diese Entscheidung auch von den Leistungen von Stephan Leyhe bei den ersten Wetltcup-Einsätzen sein.
Pius Paschke bleibt Team-Konstante
Ein ruhiger, aber wichtiger Bestandteil des Teams bleibt Pius Paschke. Bei den Deutschen Meisterschaften sprang für ihn zuletzt ein ordentlicher fünfter Rang heraus. Die Eindrücke aus dem Training zwei Wochen vor dem Winter sind ebenfalls vielversprechend. Bereits im vergangenen Winter war Verlass auf den 31-Jährigen: Mit Platz 15 im Gesamtweltcup, Silber im Team-Skifliegen in Planica und WM-Team-Gold in Oberstdorf war es sein bisher erfolgreichster Weltcup-Winter. Jedoch konnte er seine teilweise sehr guten Trainingsleistungen nicht immer im Wettkampf abrufen. „Ich habe mir vorgenommen, die Sprünge, die ich jetzt im Sommer gezeigt habe, noch besser im Wettkampf rüberzubringen. Das ist mir letztes Jahr teilweise gelungen, teilweise aber auch noch nicht so gut. Daher ist das mein Hauptziel“, so Paschke. Ein wichtiger Bestandteil im Team und auch für einzelne Teamevents wird er auch im kommenden Winter sein. Und sicherlich sind auch für Pius Paschke Platzierungen in den Top-10 möglich, wenn alles zusammenpasst.
Horngacher erwartet „keine großen Sprünge“ zum Weltcup-Auftakt
Der deutsche Bundestrainer Stefan Horngacher stapelte zwei Wochen vor Saisonbeginn erst einmal tiefer: „Ich erwarte, dass sie einfach die Trainingsleistungen umsetzen. Es ist erstmal eine Standortbestimmung und wir schauen, wo wir stehen. Ich erwarte aber keine großen Sprünge.“ Diese Aussage sollte keineswegs pessimistisch sein, sondern viel mehr die Ruhe ausstrahlen, mit der das Team an den ersten Weltcup herantreten möchte. Vielleicht auch eine wohl überlegte Strategie, um den Druck auf seine Athleten möglichst gering zu halten.
Mit Markus Eisenbichler, Karl Geiger, Stephan Leyhe, Pius Paschke, Constantin Schmid und Andreas Wellinger geht in jedem Fall ein potenziell starkes Team für den Deutschen Skiverband an den Start. Verwöhnt von den Erfolgen bei Großereignissen der vergangenen Saison, darf man auch im kommenden Winter eine gewisse Erwartungshaltung haben. Und wer weiß, vielleicht erleben wir nach 20 Jahren auch endlich die erhoffte Überraschung ausgerechnet zum 70. Jubiläum der traditionsreichen Vierschanzentournee.