Kaum sind die Weihnachtsfeiertage vorbei, steht bereits das nächste Highlight des Jahres vor der Tür. Die Rede ist von der 73. Vierschanzentournee, die am 28.12. mit der Qualifikation von Oberstdorf startet und am 6.1. mit dem Wettkampf von Bischofshofen enden wird. Das bedeutet, dass den Skispringern zehn äußerst intensive Tage bevor stehen. Doch den Stress, die Belastung und den Druck nehmen die Athleten gerne in Kauf, da es um nichts geringeres als den so heiß begehrten goldenen Adler geht. Wir blicken noch einmal auf die bisherige Saison und schauen, wer die Favoriten auf den Sieg bei der Vierschanzentournee sind.

Pius Paschke – mit 34 plötzlich Topfavorit
Der Topfavorit auf den Tourneesieg ist logischerweise derjenige, der als Gesamtweltcup-Führender in die Tournee geht. Bereits vor dem letzten Wettkampfwochenende war klar, dass Pius Paschke in Oberstdorf das gelbe Trikot tragen wird. Einerseits ist das gelbe Trikot eine Bestätigung für sehr gute Leistungen, anderseits erhöht das gelbe Trikot den Druck, da Höchstleistungen vorausgesetzt werden.
Für Pius Paschke dürfte es bereits Erfolg genug sein, überhaupt in den Genuss zu kommen, das gelbe Trikot tragen zu dürfen. Mit 34 Jahren trägt Paschke nicht nur zum ersten Mal in seiner Karriere das gelbe Trikot, er ist zugleich auch der älteste Skispringer, der jemals den Gesamtweltcup anführt.
Paschkes Führung im Weltcup ist keineswegs als Zufallsprodukt zu betrachten. Dass der Fokus in erster Linie auf dem Routinier aus Kiefersfelden liegt, begründet sich vor allem durch überragende Leistungen. Von zehn Einzelwettkämpfen gewann Paschke fünf, siebenmal stand er auf dem Podest. Eine starke Bilanz, die fast schon an die Dominanz eines Stefan Krafts aus der Vorsaison erinnert. Allerdings ließ sich in Engelberg ein leichter und zugleich unerwarteter Rückfall bei Paschke beobachten. Nachdem er im ersten Wettkampf noch zehnter wurde, reichte es im zweiten Wettkampf nur für Platz achtzehn.
Was bedeutet das für die Tournee? Auch wenn Paschke in Engelberg leicht schwächelte, sind es die starken Leistungen, die hervorstechen. Pius Paschke sollte die Form und das Selbstvertrauen haben, um den goldenen Adler ins Visier zu nehmen. Sollte Paschke wieder so wie in den Wettkämpfen vor Engelberg springen, könnte er derjenige sein, der den deutschen Fluch bei der Tournee beendet. 23 Jahre nach Sven Hannawald wäre es eine wahre Sensation, sollte Pius Paschke den goldenen Adler wieder nach Deutschland holen. Für den 34-jährigen wäre es ein Erfolg, den er sich vor einigen Jahren nicht hätte träumen lassen. Ein Tourneesieg von Pius Paschke dem Spätstarter, dem beinahe der Durchbruch verwehrt geblieben wäre, wäre fast schon kitschig. Vielleicht ist es ein gutes Omen, dass die Generalprobe nicht optimal lief.

Jan Hörl und Daniel Tschofenig – die heißen Eisen des ÖSV
Die gefährlichsten Konkurrenten von Pius Paschke kommen in diesem Jahr aus Österreich. Mit Jan Hörl und Daniel Tschofenig hat der ÖSV zwei junge Springer am Start, die nicht nur ambitioniert, sondern auch hungrig auf große Titel sind. So gut wie in dieser Saison waren Hörl und Tschofenig noch nie. Sowohl Hörl, als auch Tschofenig haben bisher jeweils zwei Siege auf ihrem Konto stehen. Zudem war Jan Hörl dreimal zweiter. Daniel Tschofenig rangierte neben seinen beiden Siegen zweimal auf der zwei und zweimal auf drei. Die Bilanz spricht also eine klare Sprache: die beiden Österreicher sind in Topform.
Was zusätzlich für die beiden spricht ist das vergangene Wochenende von Engelberg. Dort konnten beide ÖSV-Athleten gewinnen. Pünktlich zur Tournee konnten sich Hörl und Tschofenig also nochmal steigern. Damit ist klar, dass der zuletzt schwächelnde Pius Paschke den Druck von Hörl und Tschofenig spüren wird.
Allerdings könnte man sowohl hinter Hörl als auch Tschofenig noch ein kleines Fragezeichen setzen. Der Grund dafür ist, dass beide noch keinen großen Einzeltitel gewonnen haben. Ein Fakt, der eine hemmende, aber auch motivierende Wirkung haben kann. Wenn sich Hörl und Tschofenig von der Kulisse und der Aufmerksamkeit unbeeindruckt zeigen, sind beide nicht nur heiße Kandidaten auf das Gesamtpodest, sondern auch auf den Gesamtsieg.

Stefan Kraft – niemals zu unterschätzen
Häufig wird neben guter Form und Konstanz Erfahrung als wichtige Bedingung für große Titel genannt. Über Erfahrung verfügt Stefan Kraft zweifelsfrei genug. Seit Jahren ist Stefan Kraft nicht mehr aus der Weltspitze wegzudenken und somit ist der 31-jährige stets ein Kandidat für vordere Plätze. Auch für die Tournee sollte man Stefan Kraft nicht abschreiben.
Da Stefan Kraft in seiner so erfolgreichen Karriere die Tournee erst einmal gewonnen hat, wird Kraft definitiv angriffslustig sein. Allerdings ist Kraft nicht mehr ganz so gut, wie noch in der Vorsaison. Das ist jedoch Jammern auf hohem Niveau, denn auch bei Kraft stehen bereits drei Podestplätze zur Buche. Außerdem landete Kraft achtmal in den Top Ten. Klare Indizien dafür, dass Kraft alles andere als meilenweit entfernt von den allerbesten ist. Die Lücke nach ganz vorne kann Kraft definitiv während der Tournee schließen.

Gregor Deschwanden – der überraschende Mitfavorit
Ein etwas überraschender Kandidat auf den Tourneesieg ist der Schweizer Gregor Deschwanden. Sicherlich ist Deschwanden nicht so heiß favorisiert wie Paschke, Hörl, Tschofenig und Kraft, doch aufgrund der guten Form des Schweizers, wäre es ein Fehler, Deschwanden außen vor zu lassen.
Im Vorjahr hat uns Ryoyu Kobayashi gelehrt, dass es nicht immer zwangsläufig einen Einzelsieg während der Tournee braucht, um den Gesamtsieg zu holen. Eine Tatsache, die in gewisser Weise für Deschwanden spricht, da dieser weiterhin auf seinen ersten Sieg im Weltcup wartet. Allerdings stand Deschwanden bei drei Springen in dieser Saison auf dem Podest und war in der gesamten Saison nicht einmal schlechter als elfter. Das bedeutet, dass Deschwanden konstant auf hohem Niveau springt und somit einige Punkte während der Tournee einsammeln dürfte. Der absolute Topfavorit ist Deschwanden nicht, doch sollten die anderen nicht an ihr Leistungslimit kommen, befindet sich Gregor Deschwanden in Lauerstellung.

Die Deutschen – zwischen Hoffnung und Formkrise
Pius Paschke war zweifelsfrei bislang der mit Abstand erfolgreichste DSV-Athlet. Doch das bedeutet nicht, dass nur Paschke mit Ambitionen in die Tournee geht. Auch auf Andreas Wellinger und Karl Geiger sollte man achten.
Besonders Andreas Wellinger wurde vor der Saison einiges zugetraut. Allerdings mangelt es dem Mann vom SC Ruhpolding noch etwas an der Konstanz. Immerhin steht bisher ein Weltcupsieg zur Buche, jedoch war der Sieg in Ruka die einzige Podesplatzierung in den ersten zehn Wettkämpfen. Hinzu kommt, dass Wellinger bereits viermal die Top Ten verpasste. Solche Wettkämpfe dürfen sich während der Tournee nicht wiederholen, wenn Wellinger eine Spitzenposition im Tourneeranking anvisieren will. Vielmehr braucht es mehr Topplatzierungen, die Wellinger aber weiterhin zuzutrauen sind. Eine kleine Hoffnung auf eine Attacke von Andreas Wellinger besteht zumindest, denn häufig sind es die Athleten, die im Hintergrund lauern und nicht so viel Druck verspüren, die vorne mitmischen.
Karl Geiger ist sicherlich nicht ganz auf dem Niveau von Paschke und Wellinger. Allerdings verlief die Saison für den Oberstdorfer bisher weitgehend zufriedenstellend. Nach einer schwachen zweiten Hälfte in der Vorsaison, konnte sich Karl Geiger in dieser Saison wieder stabilisieren. Ein dritter Platz von Ruka und zwei Top Ten Platzierungen in Engelberg sind Indizien dafür, dass sich Geiger wieder um Aufwind befindet. Wenn es Geiger gelingt, den Aufschwung und die Euphorie mitzunehmen, wird es eine für ihn erfolgreiche Tournee. Das bedeutet, dass Geiger gute Chancen hat, unter  die besten zehn zu kommen. Für das Podest wird es wohl aber nicht reichen.
Hinter Paschke, Wellinger und Geiger besteht im deutschen Team derzeit eine große Lücke. Phillip Raimund, Stephan Leyhe und Markus Eisenbichler sind allesamt nicht in Form. Für Eisenbichler hat dies sogar die Folge, dass er den Auftakt in Oberstdorf verpassen wird. Für Raimund und Leyhe wird es in den vier Tourneespringen darum gehen, wieder in Form zu kommen, um den Absturz in den COC zu vermeiden.

Ryoyu Kobayashi – erneuter Tourneesieg unwahrscheinlich
Da Ryoyu Kobayashi der Tourneesieg der Vorsaison ist, muss auch ein Auge auf den Japaner geworden werden. Allerdings stellt sich dabei heraus, dass Kobayashi gar kein Favorit auf den diesjährigen Tourneesieg ist. Der Grund dafür ist in erster Linie, dass Kobayashi bislang seiner Form hinterher springt. In zehn Wettkämpfen hat es Kobayashi noch nicht einmal unter die besten zehn geschafft. Ein zwölfter Platz in Engelberg war die bislang beste Platzierung des Japaners. Außerdem rangiert Kobayashi im Weltcup sogar hinter seinem Teamkollegen Ren Nikaido. Tatsachen, die Kobayashi also keineswegs zum Favoriten machen. Anstatt den Titel zu verteidigen, wird es für Kobayashi mehr darum gehen, seine Form zu stabilisieren.

Norwegen, Slowenien und Polen
Bisher konnten mit Deutschland und Österreich erst zwei Nationen Weltcupsieger stellen. Den stolzen Skisprungnationen Norwegen, Slowenien und Polen gelang es bisher noch nicht, einen Athleten ganz oben auf das Podest zu bekommen. Von daher deutet nicht sonderlich viel darauf hin, dass eine dieser Nationen den Tourneesieg feiern wird.
Am unwahrscheinlichsten ist der Tourneesieg eines Polen. In der Vergangenheit durften sich die Polen mit Kamil Stoch, Dawid Kubacki und Adam Malysz häufig über den Gewinn des goldenen Adlers freuen, doch derzeit haben die Polen keinen Arhleten auf Weltklasseniveau in ihren Reihen und werden somit nicht in den Kampf um den goldenen Adler eingreifen.
Etwas bessere Chancen dürften Slowenien und Norwegen haben. Allerdings sind auch die besten Slowenen und Norweger maximal Geheimtipps, da beide Nationen noch keinen Sieg in dieser Saison bejubeln durften.
Sollte es einem Slowenen gelingen, bei der Tournee vorne anzugreifen, wird das am ehesten Anze Lanisek sein. Nach einem durchwachsenen Start in die Saison landete Lanisek zuletzt in drei von vier springen in den Top Ten. Rückfälle sind jedoch nicht auszuschließen, sodass bereits ein schwacher Wettkampf die slowenischen Hoffnungen auf eine gute Platzierung zunichte machen könnte.  Noch schwieriger ist die Lage bei Timi Zajc, dessen Leistungen stark von der Tagesform abhängig sind und von daher mit häufigen Auf und Abs zu rechnen ist.
Etwas bessere Chancen, seiner Rolle als Geheimtipp gerecht zu werden, hat der Norweger Kristoffer Eriksen Sundal. Etwas überraschend ist Sundal bisher der beste Norweger im Weltcup. Dies kommt jedoch nicht von ungefähr, da Sundal bisher in acht Wettkämpfen unter den ersten zehn rangierte. Ein klares Indiz dafür, dass Sundal konstant auf hohem Niveau springt. Sollte Sundal wie in Titisee-Neustadt während der Tournee auf dem Podest landen, ist nicht auszuschließen, dass Norwegen in der Gesamtwertung unter den ersten drei vertreten sein wird. Sundals prominente Teamkollegen Lindvik, Forfang und Granerud scheinen noch nicht die Konstanz zu haben, um ganz vorne anzugreifen.

Fazit
Ein deutsch-österreichischer Kampf um den goldenen Adler bahnt sich an. Die Gesamtbilanz der ersten zehn Wettkämpfe spricht ganz klar für Pius Paschke. Der letzte Eindruck vor der Tournee spricht für die Österreicher Jan Hörl und Daniel Tschofenig. Aber auch alte bekannte Größen wie Stefan Kraft und Andreas Wellinger sollte man auf dem Zettel haben. Darüber hinaus könnten auch Außenseiter wie Gregor Deschwanden oder Kristoffer Eriksen Sundal die bevorstehende Tournee prägen. Nahezu sicher ist, dass Ryoyu Kobayashi kaum in der Form ist, seinen Titel zu verteidigen. Von daher ist es naheliegend, dass sogar ein Springer die Tournee gewinnt, der sie zuvor noch nicht gewinnen konnte. Wie auch in all den Jahren zuvor hat die Tournee ihre eigenen Gesetze, sodass eine endgültige Prognose schwierig zu treffen ist. Vor allem die hohe Intensität, den Erwartungsdruck und die immense Aufmerksamkeit gilt es zu händeln. Letztlich wird wohl derjenige gewinnen, der in den kommenden zehn Tagen am meisten sich bleibt und den Fokus auf die Schanze hält.

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